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Die Inklusionsreform von 2015 zeigt Wirkung im Bodenseekreis

11.01.2017

BODENSEEKREIS - Die Normalität der Vielfalt: Förderschüler werden auch an allgemeinen Schulen unterrichtet. Doch das Wahlrecht der Eltern macht die Schulberatung noch wichtiger. Beispiele aus der Praxis. Erschienen im SÜDKURIER, Ausgabe Friedrichshafen, 17. Dezember 2016. Text und Bilder von Maximilian Horn.

Leon Trenkle ist Schüler der Justus-von-Liebig-Berufsschule in Überlingen und einer der Besten seiner Klasse. Beides ist nicht selbstverständlich. Leon (17) hatte in seiner frühen Schulzeit eine Lernbeeinträchtigung: "Wenn ich Vokabeln gelernt habe, musste ich die zehn, zwanzigfach lesen, um mir überhaupt die Reihenfolge zu merken", erklärt Leon. "Im Kindergarten hieß es, er soll eigentlich auf eine Sonderschule gehen", sagt seine Mutter Astrid Trenkle. "Da hab ich mich so dagegen gewehrt, das wollte ich nicht." Leons Mutter suchte nach Alternativen und stieß auf ein Modelprojekt der Burgberggrundschule in Überlingen, in dem Regelschüler und Kinder mit Förderbedarf gemeinsam unterrichtet wurden. Astrid Trenkle sagt: "Mein Traum war immer: Mein Kind geht auf die Grundschule, dann aufs Gymnasium und dann studiert's!" Für Leon ist diese Perspektive mittlerweile realistisch. Nach der Grundschule setzte Mutter Trenkle den Hauptschulbesuch ihres Sohnes durch, dann folgte die Berufsschule. "Bei seinen Noten kann er danach ins Gymnasium gehen", sagt deren Rektorin Liliane Frank. Die Sonderpädagogin Rita Müller, die Leon im Modellprojekt begleitet hat, sagt: " Du, Leon, hast dich da sehr gestreckt. Da waren viele Vorbilder in der Klasse, die dich mitgezogen haben. Damals war das ein Modell, heute ist es Gesetz."

Bisher entschied die Frage des Besuchs einer allgemeinen Schule das Schulamt. Ein von diesem festgestellter Anspruch auf sonderpädagogische Bildung bedeutete zugleich den verpflichtenden Besuch einer Sonderschule. Seit Juli 2015 ist das anders. Die grün-rote Koalition in Stuttgart verabschiedete in Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 eine Schulgesetzänderung, die sogenannte Inklusionsreform. "Bei Inklusion geht es um Vielfalt, nicht um Normalisierung oder Gleichmachung", sagt Brigitte Beurer, Leiterin der Janusz-Korczak-Schule in Überlingen. "Zentrale Begriff des neuen Schulgesetzes sind Aktivität und Teilhabe. Mein 'wie ich bin' darf keine Einschränkung mehr sein bezüglich meiner Möglichkeiten, am Schulalltag teilzunehmen. Ziel ist eine möglichst große Teilhabe an der Normalität." Man könnte auch formulieren: Ziel ist die Normalität der Vielfalt im Schulalltag.

Seit der Reform entscheiden die Eltern, ob ihr förderungsbedürftiges Kind eine allgemeine Schule oder ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ, ehemals Sonderschule) besucht. Da an der allgemeinen Schule die Voraussetzungen für eine sonderpädagogische Förderung gegeben sein müssen, ist das Elternwahlrecht eingeschränkt durch den Schulvorschlag der Behörde. Das Schulamt Markdorf kann seit der Reform einen deutlichen Anstieg der Anträge und eine Intensivierung der Beratungsarbeit verzeichnen: "Viele Eltern, die früher noch die Umschulung an eine Sonderschule abgelehnt hätten, hoffen nun auf Unterstützung durch die Sonderpädagogik an allgemeinen Schulen", sagt Schulrätin Simone Daasch, zuständig für Sonderpädagogik und Inklusion.

Florian Baur betreut als Sonderpädagoge eine Inklusionsklasse in der Schreienesch-Gemeinschaftsschule in Friedrichshafen. Beim Besuch der Klasse ist nicht zu erkennen, welche Schüler einen Förderbedarf haben, denn Baur kümmert sich zusammen mit der Fachlehrerin um alle Schüler. „Jedes Kind arbeitet im Rahmen seiner Möglichkeiten“, sagt Baur. Dieser Satz ist das Herzstück der Inklusion: Im Beamtendeutsch des Schulgesetzes ist von "zieldifferenter Beschulung" die Rede. „Von Anfang an wird das Augenmerk darauf gelegt, dass es Stärken und Schwächen von jedem Schüler gibt, und wir erklären die Individualität auch damit", sagt Baur. Die Inklusionsschüler werden nicht zwingend "zielgleich", also mit einem einheitlichen Lehrplan und Bildungsziel, beispielsweise dem Realschulabschluss, unterrichtet. Stattdessen gibt es individuell abgestimmte Lerninhalte, die den Kindern mit Förderbedarf die Teilhabe am allgemeinen Schulalltag ermöglichen sollen. Sie erwerben nicht denselben Abschluss wie ihre Mitschüler, sondern erhalten eigene Zeugnisse. In der Praxis heißt das, dass Baur für seine Inklusionsschüler Lernnachweise im gleichen Layout, aber mit anderen Aufgaben austeilt. "Wenn die Kinder nachfragen, erklären wir, dass eben ein unterschiedliches Lernziel besteht", sagt Baur. "Wir wollen niemandem etwas vorlügen, sondern wir machen das zum Thema.“

Die allgemeinen Schulen werden bei der Inklusion von den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), den ehemaligen Sonder- und Förderschulen unterstützt. Die neue Bezeichnung, ebenfalls eine Folge der Reform, hebt die Beratungsarbeit hervor, die die SBBZ an den allgemeinen Schulen leisten (siehe dazu auch rechts). Die Schule am See in Friedrichshafen (SBBZ) ist ist auf „körperliche und motorische Entwicklung“ spezialisiert. Mohammed (6) sitzt im Rollstuhl und ist rechtlich gesehen ein Schüler der Schule am See. Unterrichtet wird er aber an der Grundschule Bermatingen. Im Unterricht malt Mohammed den "Baba Noel", wie er den Nikolaus nennt. "Das ist Hautfarbe", erklärt er munter, während er das Gesicht des Wattebärtigen einfärbt. Mohammed ist vor einem Jahr mit seiner Familie aus Syrien geflohen, ohne Deutschkentnisse. Seine Lehrerin Ulrike Schneider betont, dass er sich zum besten Leser der Klasse gemausert habe. Gregor Frirdich, Schulleiter der Schule am See, sagt: „Aufgabe der sonderpädagogischen Begleitung ist es, Strukturen zu schaffen, die es Mohammed ermöglichen, sich selbstständig im Schulhaus und in der Klasse zu bewegen.“ Dazu zählte auch die Beschaffung des Kinderrollstuhls, mit dem Mohammed mittlerweile durchs Schulhaus flitzt, wenn es zur Pause läutet. Selbstverständlich spielen die Schüler dann auch mit dem Kind im Rollstuhl.

In Baden-Württemberg ist die Normalität der Vielfalt an Schulen noch nicht selbstverständlich. Das Generationenprojekt Inklusion bringt große finanzielle, politische und emotionale Herausforderungen mit sich. Viele Akteure sehen die Lehrer der allgemeinen Schulen überlastet, da sie in den Stunden ohne Sonderpädagogen die Inklusion nicht allein leisten könnten. Gefordert wird mehr Personal. Gernot Schultheiß, Leiter des Schulamts Albstadt, das auch für die Inklusion im Kreis Sigmaringen zuständig ist, gibt zu bedenken, dass es nicht am Geld fehle, sondern an der Bereitschaft vieler Sonderpädagogen, im ländlichen Raum zu arbeiten. "Da sind wir gegenüber Städten wie Tübingen oder Reutlingen im Nachteil", sagt Schulheiß. Für viele Lehrer wiegt der Veränderungsdruck durch die Schulreformen der letzten Jahre schwer, und so fordern sie Zeit, um am neuen System zu arbeiten. Auch Amtsleiter Gernot Schultheiß mahnt Geduld an. Mit der Umsetzung der Inklusionsreform stehe man nach wie vor "am Anfang".

An der Grundschule Bermatingen spielt Mohammed (auf der Schaukel) mit seinen Mitschülern.
Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Foto: Max Horn

>>> HINTERGRUND <<<

Rolle der SBBZ im Schulsystem

In der Inklusionsdebatte wird häufig die Rolle der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ, ehemals Sonder- und Förderschulen) verkannt. „SBBZ“ ist ein Sammelbegriff für Spezialschulen, aufgeteilt in acht verschiedene Förderschwerpunkte, wie zum Beispiel „geistige Entwicklung“ oder „Lernen“. Brigitte Beurer, Leiterin der Janusz-Korsczak-Schule in Überlingen-Deisendorf (SBBZ für "emotionale und soziale Entwicklung") sagt: „Der SBBZ-Begriff ist toll, weil er erstmals alle unsere Tätigkeiten benennt.

Wir machen eigene Bildungsarbeit an unserer Stammschule, aber auch Beratungsarbeit an anderen Schulen. Wir sind keine Resteschule, sondern gleichberechtigt im Schulangebot.“ Aber wozu noch die SBBZ? Immerhin haben manche Bundesländer ihre Spezialschulen ganz abgeschafft. Sonderpädagoge Florian Baur sieht die Grenzen der Inklusion an allgemeinen Schulen "dort, wo das Kind mit den fixen Rahmenbedingungen einer Schule, den äußeren Strukturen, die auch eine Schulleitung oder das Schulamt nicht beeinflussen können, nicht zurechtkommt.“ Ein Beispiel dafür seien klar definierte Unterrichtszeiten, vorgegebene Stundenzahlen, verschiedene Gebäude und größere Klassen. "Wenn Kinder mit diesen Vorgaben nicht klarkommen, weil sie beispielsweise stark autistisch sind, dann stößt die Inklusion an Grenzen", sagt Baur.

Thomas Sigg, Direktor der Stiftung KBZO (spezialisiert auf „körperliche und motorische Entwicklung“), sagt: „In diesen Fällen sind die SBBZ gefragt. Wir sind sehr groß, wir haben das Know-How durch eine große Vielfalt an Fachkräften und auch die nötige Manpower, um eine optimale individuelle Betreuung zu ermöglichen.“

 

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